Vorsicht! Fans der schnelllebigen Kurzbeiträge: Bitte nicht weiterlesen!
Das hier dauert länger. Es ist nämlich was passiert. Etwas, was bei aller Liebe und Hingabe kein Musikliebhaber auf dem Zettel gehabt haben dürfte. Das www steht Kopf, social media rastet aus, facebook bremst sich nicht mehr ein.
„Comeback“ wäre eine eher unwürdige Bezeichnung. Es geht eher um eine Auferstehung. Eine Auferstehung im religiösesten Sinne. Die Auferstehung von
RUSH
mit ANIKA NILLES on DRUMS
Wir Trommler und nicht nur wir Trommler vermissen Neil Peart. Weil er nicht nur ein außergewöhnlicher Schlagzeuger war, sondern auch ein sehr außergewöhnlicher Mensch. Wer sich für die Kunst seines Spiels und seine Haltung dahinter interessiert, der sollte sich NEIL PEARTs DVD „A WORK IN PROGRESS“ zu Gemüte führen. Hinter der unerreichbaren Idolfunktion lernt man da einen Mann kennen, der ANIKA NILLES mit Sicherheit mit größtem Respekt und Wohlwollen begegnet wäre.
Sein Tod ist umso tragischer, weil die Musikwelt nicht nur einen über alle Maßen guten Musiker verloren hat, sondern wohl auch einen großartigen Kerl.
RUSH lag nach seinem Tod verständlicherweise lange Jahre brach.
GEDDY LEE und ALEX LIFESON haben sich nach Absprache mit NEIL PEARTs Familie dazu entschlossen, RUSH mit ANIKA NILLES am Schlagzeug wiederzubeleben. So weit, so erfreulich.
Wenn man sich nun aber nach der Auferstehung der Band im www so umsieht, dann scheint eine Frage so manchen Fan umzutreiben. Diese Frage scheint im generellen Sinne nirgendwo so richtig beantwortet zu sein: Was soll eine Band tun, wenn ein Bandmitglied erkrankt oder gar verstibt? Was passiert mit den anderen in der Band, wenn eine( r) von ihnen aus welchen Gründen auch immer nicht mehr dabei sein kann?
In anderen Bereichen, im Mannschaftssport, im Fussball ist die „Fluktuation“ nicht nur gang und gäbe, sondern mittlerweile sogar Bestandteil der Maschinerie. Als Harry Kane zu den Bayern ging, gab’s ne Diskussion über die gigantische Summe, aber ansonsten hat sich der Bayernfan im durchschnitt eigentlich eher über den Wechsel.gefreut, Harry Kane brauchte zwei Wochen, dann war das Thema durch.
In der Musik ist so etwas aber immer was ganz was anderes:
Was war das für ein Geschrei, als Steve Morse bei Deep Purple einstieg. Oder als Marcus Bonifanti zu Ten Years After ging. „Kein Deep Purple ohne Blackmore“ hieß es allerorten. „Ten Years After ist mit Alvin Lee gestorben“ wurde damals im Netz rauf und runter skandiert. „Das sind alles nur noch Coverbands! Die haben mit sich selber nichts mehr zu tun…“. Die Reihe der Zitate liesse sich endlos fortsetzen.
Ich denke, man sollte da mal was dagegen stellen.
Man sollte dem allseits kultivierten Anspruchsdenken mal Bescheid sagen.
Sind Bands und Musiker nur dazu da, um anderen Leuten die eigene Nostalgie fleckenlos und rein zu halten? Wie um alles in der Welt kommt man denn dazu, Musikern und Bands das Weiterleben zu verbieten? Woher nimmt man denn die Überheblichkeit, sich in die Interessen und Entscheidungen anderer Leute einzumischen? Warum soll Musik, die vor dreißig Jahren stattgefunden hat und zweifelsohne einfach nur gut war und immernoch ist, keine andere Perspektive mehr erfahren dürfen?
Die Gesinnung von Musikfans, die den eigenen Idolen die freie Entscheidung über ihre Band und damit über ihr Leben nicht zubilligen, geht mir einfach nicht unter das ausfallende Haupthaar. Müssen Musiker nach dem Weggang eines Freundes, Mitmusikers oder Kollegen ihr restliches Leben lang stillhalten, damit ihre Fans von damals sich ein ewiges, aber starres Erinnern bewahren können?
Von echtem Interesse an Musik zeugt so eine Haltung nicht. Eher von einem ausgeprägten Ego, das die eigenen Vorbilder als persönliches Eigentum betrachtet und die Belange der Idole am liebsten verbieten würde.
Neu- bzw Umbesetzungen in Bands sind aber kein Makel und auch kein Ersatz, sondern eher Teil einer „kulturellen Evolution“.
Mal ganz abgesehen davon, dass Bands nicht nur aus Musikern bestehen, sondern oft mit einer Menge anderer Firmen vernetzt sind. Roadies, Techniker, Anlagenverleih, Agenturen und Veranstalter im Livebetrieb, Verlage und dereinst natürlich Plattenfirmen im Hintergrund, Verträge mit diesem und jenem in der Vermarktung von Merchandise und dem ein oder anderen Hemdchen und Tässchen und Schälchen…
Dass nun ANIKA NILLES in diesen digitalen Zeiten, in denen der Musik von allerlei digitalen Entwicklungen wie spotify systematisch die Luft zum Atmen abgedrückt worden ist, ausgerechnet bei GEDDY LEE und ALEX LIFESON gelandet ist, sollte doch die schönste Neuigkeit sein, die ein Musikantenherz in dieser globalen kulturellen Hungersnot derzeit erreichen kann.
Wer den Weg dieser Frau verfolgt hat, hat gesehen, wie kompromißlos und zielorientiert sie ihrer Sache nachgegangen ist. Diese Sache mit dem Talent ist in der musikalischen Welt, in der sie sich bewegt, lediglich eine Grundvoraussetzung. Dahinter steckt viel mehr Zähigkeit, Disziplin ohne Ende und ein letztlich auch ein auf finanzieller Ebene seltenes Durchhaltevermögen. In Zeiten, in denen Musik ihren gesellschaftlichen Stellenwert verloren hat und Musiker eine Hochzeit nach der anderen abklappern, um die Miete gerade noch bezahlen zu können, hat sie nicht klein beigegeben, sondern ist mit bewundernswerter Sturheit einfach bei ihrer Sache geblieben. Viele von uns gibt es nicht mehr, die es schaffen, den aktuellen, schrägsten aller kulturellen Zeitgeister zu ignorieren und ein eigenes Ding beizubehalten. Sie hat’s aber durchgezogen. Und deswegen möge die Macht verdammt nochmal jetzt endlich auch mit ihr sein!
Aber schon geht es los: Neben all den erfreulichen und zusprechenden Zeilen im Netz finden sich die neiderfüllten Kommentare der Pseudoinsider. Die Ergüsse der facebookerprobten Buchstabenreiter, deren Leben in unabänderlichen Kategorien verlaufen muss und deren Urteil über Malerei, Musik und alle Kunst allein in ihren Hirnen stattfinden darf und muss. Neben dem überflüssigen Gesülze, welches besagt, dass NEIL PEART nicht ANIKA NILLES ist, trifft man auf die seltsamsten Ausgeburten digital bezogener Pantasien wie diese hier:
„Dass jede Band die freie Wahl hat, wen sie anheuert, heißt nicht, dass das immer auch die richtige Wahl ist. Anika ist eine brilliante Musikerin, aber sie ist nicht die richtige Wahl für RUSH, solange die nicht eine Free Jazz Band werden wollen. Ich glaube, dass das ein populistischer Kunstgriff ist, um im www Aufmerksamkeit zu generieren, weil RUSH in der Musikindustrie nicht mehr wichtig war.
Man hätte ganz andere Leute holen können, aber hier geht es wohl lediglich um den „social- media- Aufreger“, weil das alles außerhalb jeder Norm gemacht wurde.
Man nennt das Markekting101.“
Wow. Da bleibt einem doch die Spucke weg! Das muss einem erstmal einfallen! Man muss ja nicht alles verstehen, das wäre ja auch weiß Gott zuviel verlangt, aber den Sachverhalt aus einer solchen Ecke zu sehen, ist schon wirklich eine Leistung. In welche Untiefen sich der menschliche Geist doch zuweilen begibt…
Man schwankt zwischen Erstaunen und Verblüffung!
Ich sag mal so: Musiker wie Alex Lifeson oder Geddy Lee haben in den über siebzig Jahren ihres Daseins auf ihrer musikalischen Reise alles erreicht, was sie erreichen konnten. Zu glauben, dass die ihr Lebensprojekt RUSH nur noch einmal angehen, um sich den aberwitzigen und kranken Mechanismen von facebook oder tictoc auszusetzen, zeugt von der typischen, vom sillycon valley gezüchteten Arroganz auf social media.
Zu glauben, dass all und jedes Wesen auf Gottes Erden Rund‘ sich absichtlich dem allgegenwärtigen Irrsinn im www unterwirft, um einer in diesem fortgeschrittenen Alter äußerst unwahrscheinlichen Profilneurose nachzurennen, ist an Blödheit schon fast nicht mehr zu schlagen.
Zu glauben, dass die Kunst sich weltweit nurmehr am Wohlwollen der Algorithmen amerikanischer, vollkommen verrückt gewordener Multimilliardäre orientieren darf, ist der Gipfel der digitalen, globalen Überheblichkeit.
Es gibt, das mag der von social-media gefütterte Narziß glauben oder nicht, in der Tat auch heutzutage noch Leute, die MUSIK lieben. Völlig unabhängig von spotify, facebook, youtube oder tictoc. Es gibt tatsächlich noch Leute, die sich mit Musik beschäftigen, ohne die eigene Nostalgie für den Mittelpunkt der Welt zu halten. Leute, die durchaus in der Lage sind, einfach nur zuzuhören und die gespannt auf das sind, was bei neuen Aktivitäten rauskommt.
Und für die lohnt es sich auch, weiterhin Musik zu machen.
ALEX LIFESON, GEDDY LEE, ANIKA NILLES und die Familie von NEAL PEART dürfen hoffentlich ohne die Bevormundungen aus dem www ihr Leben führen. Etwas mehr Respekt vor den Entscheidungen anderer Leute würde social media nämlich gut tun. Und zwei, drei Gramm analoge Demut dürfen auch mal wieder dabei sein. Dann würde Zuckerberg zwar drei, vier Milliarden weniger verdienen, aber dafür wäre unter den Menschen wieder viel gewonnen.
In diesem Sinne:
Alles erdenklich Gute der Musik, alles Beste für ANIKA NILLES.
And don’t forget to Rock And Roll!
Grüßchen
Euer Dorfpfarrer