Die fünfte Jahreszeit

 

Selbstverständlich braucht man als Musiker nichts so dringend wie Buchungen und Gigs. Immer. Das Blöde daran ist, dass gestandene Altrocker um diese Jahreszeit, so kurz nach Silvester, eine Heidenpanik davor haben, tatsächlich einen zu kriegen. Was uns dabei umtreibt, ist weniger der Gedanke an die Arbeit an sich. Die machen wir weiß Gott lange genug. Es ist vielmehr mehr die pure Höllenangst vor den Arbeitgebern. Schon bevor dir die Kohle ausgeht und du nicht mehr weißt, wie du deine Vorsteuer bezahlen sollst, steht der zahlkräftige Leibhaftige schon Hufe scharrend und schnaubend vor Angriffslust in den Startlöchern. Ich rede von dem, dessen bloße Namensnennung den Teufel selbst in die Flucht schlägt: Dem oberfränkischen Fasching! Bestens bekannt für den rücksichtslosen Gebrauch der Schusswaffe, kennt er meine Finanzlage ganz genau und steht jedes Jahr ab Oktober schon lauernd vor meiner Wohnungstür. Er weiß ganz genau, dass meine Kinder essen müssen und dass ich allein aufgrund dieser Tatsache schon gezwungen bin, selber am Leben zu bleiben. Ich verbringe seit Äonen die letzten Monate des alten und die ersten Wochen des neuen Jahres mit heruntergelassenen Rollläden im Dunkeln, das Telefon unter Bergen von Kissen versteckt, damit ich es nicht hören muss, bis ich es schließlich doch ausgrabe, weil der Hunger einen zwingt, endlich ran zu gehen. Das Läuten allein verkörpert zu dieser Zeit entgegen seiner sonst harmlosen akustischen Natur das reine und nackte Entsetzen, der Angstschweiß steht einem trotz kalter Jahreszeit vierundzwanzig Stunden am Tag nicht nur auf der Stirn, sondern drückt aus allen Poren. Du hebst nach dem tausendsten Klingeln endlich diesen gottverdammten Hörer ab, wohl wissend, dass ER dran sein wird und welche Worte dich an deinem Ende der Leitung erwarten: „Na? Kennst du mich noch? Hast du Rosenmontag Zeit? Nix Schwieriges. So Zeug wie ‚Komm hol das Lasso raus wir spielen Cowboy und Indianä’, ein paar mal ‚Wahnsinnwarumtreibstdumichindiehöllehöllehöllehölle’. Tempo zähl’ ich dir vor, Schluss auf Zuruf, ab und zu humpa tätäräää, und hast du nicht gesehen, sind die zwölf Stunden um. Zweihundert Möpse. Setz’ dir doch ne Pappnase auf, dann erkennt dich keiner! Was is? Bist du dabei?“ 

Das läuft ab wie der Hofdialog zweier lausiger Vorstadtkrimineller, die gestreckte Drogen verkaufen wollen. 

Und sagst du es es wieder. Das kleine Wörtchen, dem du schon so oft abgeschworen hast und das dich schon so oft mit einem Bein ins Narrenhaus gebracht hat. Unter Tränen quälst du es stockend über die Lippen: „…ja, is gut, ich mach’s …“

Du ziehst deine Schuhe an, öffnest die Wohnungstür einen Spalt und zack, hat dich der Scherge schon in die Zwangsjacke gesteckt. 

Während dich der Fasching zu deinem Auto prügelt denkst du daran, wie du dich früher noch gewehrt hast, aber die letzten fünfundzwanzig Jahre haben dich die Resignation in Reinkultur gelehrt. “Ich war jung und brauchte das Geld“ zählt nicht mehr. Du bist damit alt geworden. Jeglicher Widerstand ist zwecklos. Der fränkische Fasching hat dich, wie sich das gehört, am rechten Arm im unauskommbaren Stoibergriff. Er verschleppt dich in seinen Proberaum, gut versteckt im dunkelsten Föhrenkieferfichtennadelgetänn, wo dich seine beiden Dominas, die sadistische Schützenliesl und die grenzdebile Rosamunde, beide hervorgegangen aus einer uralten Geschwisterliebe, schon geifernd und zeternd erwarten. Es kommt dir ein unerwartetes und unbeholfenes „Na, ihr zwei Hübschen?“ über die Lippen, während sie dich höhnisch grinsend auf den verrosteten Schlagzeughocker schieben und dir ein Wasser ohne Kohlensäure anbieten. „Müssen wir das Frankenwaldlied proben? Das können wir uns doch schenken, oder?“ Aber sie kennen deine lausigen Ansätze, der Dreiviertelfolter entkommen zu wollen. Sie wissen, dass du es mit der Sechsachtelpeitsche versuchen wirst, weil die weniger weh tut. Aber sie lassen dich nicht. Die Inquisition zwingt dich zu einem „Wenn du noch eine Schwiegermutter hast, ja dann schick sie in den Ooooodenwald, denn im Wald, da sind die Roooooooooooiibä, halli, hallo, die Roooooibä…“ und dein Kreislauf ist ob dieser Höllenqualen schon dabei, zu kollabieren. Dies jedoch ist dir nicht vergönnt, die gnadenlosen Furien wecken dich mit einem kalten und brutalen „I will survive laaaaalalalalaaaa….“, weil du ja die diesjährigen Neuerungen im Repertoire nicht verpassen sollst. Und sie sind wahrlich an Einfallsreichtum nicht zu übertreffen! Es ist, als würden sie dir die Fingernägel mit glühenden Zangen ziehen: Das Helene Fischer – Medley… 

Nun ist die Geschichte der fröhlichen Pappnasenfolter eine wahrlich sehr lange, aber eine derartige Grausamkeit ist wohl noch keinem Inquisitor eingefallen. Es ist an der Zeit: Dein Beißreflex macht sich bemerkbar. Jedes Jahr um diese Zeit untrügliches Indiz dafür, dass deine Belastungsgrenze überschritten ist. Es hat ein jeder Leser dieser Zeilen wohl schon einmal die Becken (Anm. des Verf: Das sind die runden Scheiben aus Metall an einem Schlagzeug, die immer so laut sind. Auf neudeutsch „Cymbals“ genannt) einiger Schlagzeuger betrachtet, die so aussehen, als hätte jemand ein Stück am Rande abgebrochen. Also bei den Becken jetzt, nicht bei den Schlagzeugern. Das sind aber gar keine Bruchkanten! Und das kommt gar nicht vom Draufhauen! Es handelt sich dabei vielmehr um die Spuren,  die ein Trommlergebiss hinterlässt, wenn es versucht, seinem Träger durch heftigstes Zubeißen die Schmerzen bei „Atemlos“ zu lindern. Wann immer ihr also kaputte Becken auf einer Bühne seht, denkt mal daran, durch welche Faschingshölle der Besitzer derselben bereits gegangen ist! Denn es bleibt ja nicht bei der Probe allein: 

Wenn man so richtig Pech hat, sind bei den darauf folgenden Gigs auch welche mit so Zeug wie „Elferrat“ oder Ähnlichem dabei. 

Wo Leute dann Gedichte auf Roland Koch Niveau vorlesen. Reim dich oder ich fress’ dich!  

„Tätä,tätä,tätäääääääääääää. Bumm.“

Halt. Entschuldigung. Wir sind in Franken:

„Dädä, dädä, dädäääääääää. Bumm…“
Und du kannst dich nicht mal betrinken, weil du noch fahren musst. Und die netten Polizisten glauben dir wie jedes Jahr kein Wort, wenn du ihnen erzählst, dass du tatsächlich keinen Schluck getrunken hast. Bis auf das Mineralwasser ohne Kohlensäure von Rosamunde und der Schützenliesl natürlich.

Die Schilderung dieser Torturen ließe sich noch endlos fortsetzen, würde jedoch den in den meisten Fällen zeitlich zur Verfügung stehenden Rahmen der werten Leserschaft sprengen und nebenbei Hieronymus Bosch den Rang ablaufen.

Also Klappe halten. Abbauen. Kohle holen. Und wenn dich dabei einer der Besoffenen entdeckt und auf dich zuwankt, schnell verschwinden, weil du echt keinen Bock hast auf „Ey Ognglz ey…!“

Du setzt dich schließlich, aus tausend Wunden blutend, in deinen alten Passat, schaltest das Radio an und fährst nach Hause. 

 

Da spielen sie gerade Coldplay. 

„In my place, in my place…“ 

Nur drei Töne am Klavier.

 

Sie sind wunderschön…